“Mein Russland sitzt in Haft.”

Über Poltische Gefangenschaft in Russland

11 Millionen Menschen sind weltweit inhaftiert. Ein Drittel dieser wartet noch auf einen Prozess. Dabei können gezielte Verhaftungen auch als Machtinstrument zur Einschüchterung einzelner Gesellschaftsschichten oder Gruppierungen dienen. Und nicht jeder Prozess verläuft fair. Immer wieder liest man in der Presse die Formulierung „politisch motivierter Prozess“ oder die Bezeichnung „politische Gefangenschaft“. Auch im Zusammenhang mit der Russischen Föderation.

Ich habe mit Christina Riek vom Vorstand der Organisation MEMORIAL Deutschland zum Thema ‚politische Gefangenschaft in Russland‘ gesprochen. MEMORIAL wurde 1988 gegründet und hat ihren Hauptsitz in Moskau. Die Organisation arbeitet unter anderem die stalinistische Gewaltherrschaft auf, unterstützt GULag-Überlebende und tritt für Menschenrechte ein.

 

Demonstration Russland "Mein Russland sitzt in Haft."
Demonstration in Moskau Feb. 2020 u.a. für die Freilassung des Aktivisten Konstantin Kotov: “Mein Russland sitzt in Haft.” | Credits: Valery Tenevoy / //plagness.com

 


CouchFM Logo der Sendungsreihe "Gesprächsstoff". Ikonischer Fernsehturm vor Skyline in Mint und Grau.

GESPRÄCHSTOFF

 

Jetzt anhören:

 


Was ist politisch motivierte Haft?

Auf der Webseite von MEMORIAL ist eine lange Erklärung darüber zu lesen, welche Punkte zutreffen müssen, damit eine Person in ihren Augen als Politischer Gefangener eingestuft wird. Christina Riek fasst es so zusammen:

„Es gibt da zwei Kategorien, wobei die erste viel wichtiger ist. Das sind Menschen, die verfolgt werden, weil sie ihre Bürgerrechte ausleben wollten und aus Überzeugung das zu machen. Die zweite Kategorie betrifft Personen, die Gesetze tatsächlich überschritten haben, aber auch aus politischen Gründen verfolgt werden. Wo es also etwas gibt. Wo man sagt ‚ja das ist nicht okay, dafür muss die Person tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden‘, aber dann hat das eben noch politische Gründe.“

Auch weist MEMORIAL  aus, wann der Begriff Politischer Gefangener für sie nicht greift: „A person is not to be regarded as a political prisoner, if, under the above circumstances, the person has committed: 1.) a violent offence against persons, except in cases of self-defence or necessity; 2.) a hate crime against a person or property; or the person has called for violent action on national, ethnic, racial, religious or other grounds.”

“Als Vorwand wird alles Mögliche genommen.”

Mensch, lange Haare, Brille, Sakko
Christina Riek

In Deutschland wie in Russland braucht es für eine Anklage einen Tatverdacht. Was sind in politisch motivierten Prozessen in Ihren Augen Vorwände, um eine Person vor Gericht zu bringen?

„Als Vorwand wird alles Mögliche genommen. Steuerhinterziehung definitiv, bei manchen würde ich dann sagen gab es tatsächlich auch eine Steuerhinterziehung. Bei manchen aber halt auch nicht. Also die Steuerhinterziehung wird auch definitiv bei denen genutzt, die überhaupt keine Steuern hinterzogen haben und die auch ganz wunderbar ihre Finanzen dargelegt haben. Das ist ein Grund…. Und häufig ist es die Teilnahme an extremistischen Organisationen, an terroristischen Organisationen. Die Vorbereitung zur gewaltsamen Machtergreifung ist auch ein Grund. Der Handel mit Drogen, Pornographie, also Verbreitung von Kinderpornographie. Die Demonstrationen die jetzt Ende Januar stattfanden, da war es die Verbreitung des Coronavirus… also das war etwas anders formuliert. Das war dann die Missachtung der Regeln zur Eindämmung der Pandemie. Das wurde dann eben genutzt, um Leute hinter Gittern zu bringen.“

Warum eignen sich besonders solche Vorwände gut für eine politisch motivierte Verhaftung?

„Ich glaube bei der Kinderpornographie ist das schon ein sehr heikles Thema. Da ist niemand gleichgültig. Das tut weh, wenn man sowas hört und letzten Endes macht es die Leute auch kaputt. Also wenn man wegen Kinderpornographie vor Gericht steht und vielleicht sogar auch verurteilt wurde… das macht ja was mit diesen Menschen, aber auch mit der Gesellschaft. Also wie geht die Gesellschaft dann mit jemandem um wo das zumindest mal im Raum stand. Und wenn es zu einer Verurteilung kommt, dann hat die Öffentlichkeit halt ein Bild über diese Person.“

“Häufig sind das Muslime…”

Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski, Alexej Navalny, Pussy Riot Miglieder:innen Nadezhda Tolokonikova und Marija Aljochina oder GULag-Forscher Juri Dmitrijew. 5 Namen, die auch in der deutschen Berichterstattung im Zusammenhang mit politisch motivierter Haft in Russland fallen. Im Februar 2021 zählte MEMORIAL 376 Häftlinge in Russland als politischer Gefangene. Wer sind diese Menschen?

„Das sind total unscheinbare Menschen die meisten und von den meisten erfahren wir das auch gar nicht… zumindest nicht im Westen. Häufig sind das Muslime, denen vorgeworfen wird einer extremistischen Organisation anzugehören, das sind dann teilweise Ableger des Islamischen Staat.“

In ganz Russland gibt es Menschenrechtsorganisationen, die sich für politische Gefangene einsetzen. Neben MEMORIAL ist es z.B. OVD Info und die Public Verdict FoundationOVD Info bezeichnet sich selbst als unabhängiges Medienprojekt, dass politische Verfolgung in Russland festhält und publik macht. Durch eine rund-um-die-Uhr besetzte Hotline kann man zu jeder Zeit einen Fall, wie z.B. eine Verhaftung melden. Und erhält Informationen darüber, wie man sich am besten zu verhalten habe. Auch ein Rechtsbeistand wird auf Wunsch vermittelt. Im Jahr 2020 erhielt die Organisation monatlich im Schnitt 1000 Anrufe.

Haben die Fälle politischer Gefangenschaft nach Ihrem Erkenntnisstand in den letzten 10 Jahren zugenommen?

„Ja, die Fälle, die haben zugenommen… Ja, das kann man ziemlich direkt so sagen, weil sich auch einfach die Gesetzeslage verändert hat. Die Gesetze wurden verschärft… Also es gibt jetzt immer mehr Gründe jemanden zu verhaften.“

Was sind das für Verschärfungen und wie werden die Rechte russischer Bürger:innen beschnitten?

„Also sobald die Person einer ‚nicht traditionellen Orientierung‘ – wie man so schön auf Russisch sagt – ist, dann gibt es ganz klare Einschränkungen. Die LGBT Propaganda ist verboten. Dass heißt, das man nicht draußen seine Sexualität zeigen darf, um Kinder davor zu schützen. Wenn man jetzt allerdings eben heterosexuell ist und auch sonst kein Problem hat mit der Regierung oder apolitisch ist, kann man einigermaßen gut leben… aber von der anderen Seite ist auch die Bildung davon betroffen, also das Bildungssystem. Wenn man kritisches Denken propagiert oder das möchte, dann hat man schon ein Problem.  […] Und, wenn man als Elternteil möchte, dass das Kind etwas freier erzogen wird, dann kommt man da sehr schnell an seine Grenzen. Genauso studentische Organisationen. Es gibt natürlich studentische Organisationen, aber sobald die studentischen Organisationen nicht ganz Putins Linie vertreten, kommt man da an seine Grenzen. Es heißt nicht, dass man ihn überhaupt nicht kritisieren darf, aber man kommt eben sehr schnell an seine Grenzen.“

Demonstrationen während der Pandemie

Das Demonstrationsrecht wird ja auch in anderen Teilen der Welt dem Infektionsschutzgesetz untergeordnet. Wie hat die Ausbreitung des Coronavirus die Form des Protests in Russland verändert?

„Ja es gibt jetzt nur noch diese odinočnyj piket (одиночный пикет). Also so Ein-Frau-, Ein-Mann-Demonstrationen, wo man 50 m Abstand halten muss zur nächsten Person und kann dann ein Schild oder so was hochhalten.“

Im Frühjahr des Jahres 2020 wurde jedoch auch diese Form des Protests oft unterbunden und Protestierende verhaftet. In Moskau wurde das mit dem Erlass zur Eindämmung der Pandemie begründet, in welchem z.B. Veranstaltungen im öffentlichen Raum zunächst verboten und dann stark eingeschränkt realisierbar waren. Zu diesen zählen auch die odinočnyj piket (одиночный пикеты), die man ins Deutsche als ‚einzelner Streikposten‘ übersetzen kann. Doch schon vor der Pandemie war es schwierig eine regierungskritische Demonstration durchzuführen. Die wenigen genehmigten Demonstrationen werden oft an den Stadtrand verdrängt.

„Wenn man jetzt eine regierungsnahe Organisation ist und für etwas demonstrieren möchte was die Regierung gut findet, dann hat man auch kein Problem. Dann wird das auch genehmigt. Dann kann das auch ganz friedlich stattfinden. Aber, wenn es etwas ist, dass die Regierung nicht ganz so genehm findet, dann wird es schwierig.“

 

 

OMON Streitkräfte verhaften einen Demonstrierenden
OMON Streitkräfte unterstehen direkt dem Innenministerium. Hier verhaften sie einen Demonstrierenden bei den Protesten zur Freilassung Alexej Navalnys am 31. Januar 2021 | Credits: Valery Tenevoy / //plagness.com /

“Wenn Putin morgen auf dem Eis ausrutscht und nicht mehr regieren kann, dann wird sich das jetzt nicht von heute auf morgen ändern.”

Seit 2012 gibt es in Russland ein Gesetz, das besagt Organisationen, die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland beziehen seien als ‚ausländische Agenten‘ einzustufen. Seit 2020 können nun auch Einzelpersonen von  diesem Gesetz betroffen sein – etwa, wenn sie sich mit politischen oder militärischen Themen beschäftigen und Geld oder Hilfen aus dem Ausland erhalten. Laut Christina Riek führt diese Veränderung zu Angst und Verunsicherung und damit auch zur Selbstzensur. Bürger:innen seien vorsichtiger geworden, mit dem wie sie sich in sozialen Medien bewegen.

Aktuell wird geplant das Gesetz mit dem Titel Über die Aufrechterhaltung des Sieges des sowjetischen Volkes im Großen Vaterländischen Krieg von 1941-1945 in diesem Jahr zu verabschieden. Dieses soll verbieten die Sowjetunion mit dem Dritten Reich zu vergleichen.

Diese Entwicklungen führen unter anderem dazu, dass immer mehr junge Menschen und Fachkräfte das Landverlassen. Was muss sich Ihrer Meinung nach ändern, damit diese Entwicklung gebremst wird und die Rechte der Menschen in Russland mehr gewahrt werden?

„Ich weiß es nicht. Es ist nicht nur Putin. Also, wenn Putin morgen auf dem Eis ausrutscht und nicht mehr regieren kann, dann wird sich das jetzt nicht von heute auf morgen ändern. Es gibt keine Opposition, also keine starke Opposition. …. Ja ich finde es schwierig. Der Brain Drain wird weitergehen. Da bin ich mir ziemlich sicher. Auch ganz viele hohe Politiker haben ihre Töchter und Söhne im Ausland. Man muss auch die Rolle der Orthodoxen Kirche betrachten; die darf man nicht vernachlässigen.“

Wenn Sie eine Botschaft an Deutschland und an die Europäische Union hätten, die beim Umgang mit Russland zu berücksichtigen wäre, welche wäre das?

„Sich bei politischen Entscheidungen nicht immer an der Wirtschaft orientieren. Das es eben noch andere Dinge gibt. Und wenn wir als Europäische Union irgendwie europäische Werte haben, dann dürfen die nicht an den Grenzen aufhören.“

Weiterführende Links

Homepage MEMORIAL Deutschland

Über Polizeigewalt und Verhaftungen von Journalist:innen bei Protesten | dekoder

Gespräch mit Quarteera e.V. u.a. über die Lage von LGBT in Russland | Gästezimmer couchFM

 


Autor:

Mitglied Lilia

Lilia