Plattenkritik: HVOB – Rocco

FLUT
©Andreas Jakwerth

Hypnotische Synthklänge, clubbige Beats und Anna Müllers gehauchter Gesang: Das war lange das Erfolgsrezept des Wiener Duos HVOB. Jetzt haben sie mit Rocco ihren vierten Longplayer veröffentlicht – und schlagen andere Klänge als zuvor an.

Vier Buchstaben – eine Erfolgsstory

HVOB ist das Akronym für Her Voice Over Boys. Der Name ist nicht emanzipatorisch gemeint, sonder umschreibt das Bandprojekt präzise: Anna Müller spielt den Melodiesynthesizer und singt, Paul Wallner steuert die anderen Instrumente. Im Livekontext wird das Duo von einem Schlagzeuger unterstützt. Allerdings ist HVOB nicht ausschließlich auf die Musik herunterzubrechen. Künstler, die Lichtshows, Covers usw. erzeugen, sind Teil des Konzepts und tragen dazu bei, dass die Releases und Shows geradlinig und stimmig sind. Nicht nur deshalb tragen die Alben das Präfix Konzept-; eine übergeordnete Idee liegt ihnen zu Grunde. Im Fall von Rocco geht es um das Thema Loslassen und um einen Neubeginn. Inspiriert ist es aus einem Gespräch von Anna mit einer Frau, die von Rocco verlassen wurde und mit Hilfe der Musik von HVOB darüber hinweg gekommen ist.

Nachdem sich die Indie- und Punkprojekte der beiden aufgelöst haben, entschieden sie sich Anfang der 2010er Jahre als Duo weiterzumachen. Beide hatten Lust, sich musikalisch zu verändern. Einflüsse aus Clubnächten im (mittlerweile geschlossenem) Wiener Club Pratersauna führten letztendlich zu dem unverkennbaren Sound, der 2012 erstmals mit der EP Dogs den Ohren der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Innerhalb kürzester Zeit erlangten HVOB gerade in Berlin einen Bekanntheitsgrad, für den viele Musiker*innen jahrelang kämpfen müssen. Sicherlich liegt das auch daran, dass Dogs direkt auf Oliver Koletzkis Label Stil Vor Talent erschien – ein Schwergewicht der lokalen Szene.

 

Es folgten große Gigs, etwa auf dem Melt! und SXSW Festival, und zwei LPs, die den Beiden Auszeichnungen und Popularität verschafften. In der folgenden LP-Kollaboration mit dem Mumford & Sons Gitarristen Winston Marshall machten HVOB den Sprung zum bedeutenden Live-Act und tourten rund um den Globus. Aus fast logischer Konsequenz spielten sie 2017 als Headliner auf dem Sonár in Barcelona, was für einen elektronischen Act einem Ritterschlag gleichkommt. Aufgrund ihres vollen Tourkalendars ist es verwunderlich, dass es die beiden zwischen Nightliner und Flugzeug noch schaffen, ihren regen musikalischen Output aufrecht zu erhalten. Das neue Album kommt in Doppellänge daher und bricht mit dem bisher sehr harmonischen und ruhigen Signature Sound. Es soll als Rückkehr zu den Wurzeln verstanden werden.

 

Have you ever felt like me, like a buttertree?

Der Einstieg in das Album ist zwar ein klassisches HVOB-Lied, aber schon bei “Eraser” bekommt der Zuhörer die Vorahnung, dass sich das Duo aus dem engem Korsett ihres Signature Sounds befreit. Die erste Singleauskopplung kommt zackig daher und bedient sich Techno-Ästhetiken. Die rumpelnde Bassline wird mit verzerrten Synths kombiniert und durch aufmunternde Lebensweisheiten (“Everybody’s gonna die on their own”) komplettiert.

 

Spätestens nach dem LoFi-Epos “Bloom” dürften viele Fans in Verwunderung gestürzt sein, denn “Butter” ist nach langwierigen Intro ein harter Club-Banger, der auch in Hammahalle und Berghain zu gefallen weiß. Was uns Anna Müller mit ihrem Gesang sagen will (sieht Überschrift), ließ sich für mich nicht rausfinden. Ich persönlich kann jedoch konstatieren, mich noch nie wie ein Butterbaum gefühlt zu haben, der in afrikanischen und indischen Gefilden zur Familie der Sapotengewächse zählt. Allerdings ist hier die Bedeutung der Worte wohl eher von zweitrangiger Bedeutung. Einzig der Klang ihrer Stimme ist Ausdruck einer Stimmung. Das Lied spult sich weiter hoch – “Speed up boy” erklingt über harten Industrialklängen und erinnert mich an einen verkaterten Frühjahrsputz, bei dem die Mitbewohner*innen im Nacken sitzen. Im Moment der Ekstase kreischen die Instrumente nur noch schrill, HVOB sind in der kathartischen Noise-Musik angelangt. Es ist immer ein schmaler Grat, eine musikalische Entwicklung zu vollziehen und gleichzeitig die eigene Fan-Base mitzunehmen. HVOB geben sich hier aber kompromisslos. Friss oder Stirb!

 

Mit “Kante” gibt es noch einen zweiten Track auf Rocco, der voll im Trend des Hardstyle-Aufschwungs steht (siehe z.B. Modeselektor, bei denen wir kürzlich zu Gast waren). Die anschließenden Tempowechsel sind krass und führen zu einem Wechselbad der Gefühle. Trotzdem zieht sich eine hypnotische Stimmung durch das Album, die Rocco wie aus einem Guss erscheinen lässt. Die Tracks klingen crisp, auch wenn sie weniger eingängig als zuvor sind. Die Lyrics sind kryptisch und laden zur eigenen Interpretation ein. Und auf der 13-Song-starken LP finden sich auch genug Momente, die man von einem HVOB-Album nunmal erwartet. Mein Highlight ist “Sync”: Die Hookline “Sync or Swim” lässt sich auch als “Sink or Swim” verstehen. Ob hier zum Ausdruck gebracht wird, dass diejenigen untergehen, die sich in der Gesellschaft synchronisieren…? Vielleicht ist das zu weit gedacht, denn der Track plätschert gefällig dahin und ist eine klangliche Wohlfühloase.

 

Nach anfänglichem, oben geschilderten Schock kann ich Freunden elektronischer Musik die 82-minütige Reise ans Herz legen. HVOB hält die Balance zwischen musikalischer Weiterentwicklung, um nicht langweilig zu klingen, und Linientreue mit dem Sound, der sie zu einer gefragten Band gemacht hat. Live und in Farbe gibt es das Duo (dann aber als Trio mit Drummer) am 19. und 20.4 im Funkhaus zu sehen – es gibt noch einige Karten für das Zusatzkonzert am 20. April.

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Autor:

Vincent