What’s your Bodycount?

Es scheint als hätte es bis vor einigen Monaten nur ein relevantes Medium gegeben. Man konnte sich darauf einigen, dass Instagram eine der pragmatischsten Plattformen der sozialen Medien ist. Bilder, Videos, IG-TV und Stories für die ganz Verrückten. Je nach Gusto ist hier für jeden etwas dabei. Wie ein gut sortierter Supermarkt. Die Oberfläche der Plattform ist handlich und wesentliche Merkmale wie Uhrzeit und Akkustand sind trotz Benutzung der App immer noch ersichtlich. Praktisch, wenn man den Überblick nicht verlieren möchte und sein tägliches Konsumverhalten auf unter zwei Stunden begrenzen möchte.

Doch nun gibt es einen Wandel im Kampf um Platz 1 auf Social Media. TikTok hat sich zum Medium der Millennials an die Spitze katapultiert. Und eins sage ich euch: Diese Plattform ist schlimmer als Heroin. Einmal dort gewesen, kommt man erst nach einigen Stunden von der Plattform wieder runter, wenn die Augen gerötet und trocken und der Akkustand auf unter fünf Prozent gesunken ist. Ist natürlich clever, wenn zusätzlich das Gefühl für Raum und Zeit genommen wird, in dem man eben nicht sieht wie spät es ist und wie viel Datenvolumen man gerade für tanzende Teenager geopfert hat. Doch durch den Scrollcharakter, mit dem man von Video zu Video gelangt, wird man so heftig mit Content zugeballert, dass einem das Gehirn schmilzt. Von Leuten, die tanzen, singen, Liebesbekenntnisse in den Äther blasen, weinen, Party machen oder ihr Coming-Out feiern, gibt es auf dieser Plattform alles. Und damit meine ich wirklich alles. Sei es feministischer, politischer, toxischer oder auch sexistischer Content. Und TikTok ist klug.

Der Algorithmus hat es im Gegensatz zu Instagram geschafft, die User-Experience mit jeder Sekunde, die man auf dieser Plattform verbringt zu verbessern. Je nachdem wie lange man sich welches Video ansieht und liked, passt sich der Algorithmus schlagartig an und schlägt einem darauf basierend neue Videos vor, die zum bisher konsumierten Shit passen. Und das Teuflischste daran ist, dass es das Unterbewusstsein richtig hart manipuliert. Stand ich doch sonst eher auf Typen, die älter waren als ich, mit Bart und bäreskem Verhalten ihrer „Männlichkeit“ Ausdruck verliehen, sieht man auf TikTok fast nur Anfang 20-Jährige, die glattrasiert und mit Kurzhaarschnitt in die Kamera posen.

Als mich die Quarantäne in die Arme dieser App trieb, fand ich das Ganze eher merkwürdig und bizarr. Doch siehe da, drei Monate mit dieser App haben meinen Geschmack in Sachen Männern komplett geändert. Und nicht nur das. Auch mein Selbstbild hat sich mit verändert. War ich doch sonst eine selbstbewusste Person, die sich sicher war, dass sie zwar nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht, aber dennoch gut in ihrem eigenen Körper zurechtkam, hat TikTok meine Selbstwahrnehmung doch nachhaltig beeindruckt. Nun sehe ich täglich unzählige Videos von schönen jungen Frauen, die mir suggerieren, dass sie nicht perfekt sind, in dem sie dies immer und immer wieder in die Kamera brüllen. Und so sehr ich mich auch dagegen wehren will, ich kann nicht. Es beeinflusst mich. Es beeinflusst meine Einstellung zu mir, zum Essen, zum Sport und darüber wie egal es mir einst war, wie andere mich wahrnehmen. Das ist der Unterschied zu Instagram.

Klar, wird hier dasselbe Spiel gespielt, doch durch den durchgehenden Video-Charakter, der zudem sehr authentisch ist, weil es mit der eigenen Handy-Kamera mal schnell gefilmt wird, verschwindet die auf Instagram geschaffene Distanz. Es fühlt sich an wie eine zweite Pubertät. Dazu kommt erschwerend hinzu, dass auf dieser Plattform scheinbar viele junge Frauen, aber auch Männer so unsicher in ihrer eigenen Haut sind, dass sie öffentlich Fragen an das jeweils andere Geschlecht stellen, was ihnen an einer Frau bzw. Mann gut gefällt, worauf sie wert legen und was die absoluten No-Gos sind. Das meine Lieben ist Sexismus at it’s best.

Wir scheren alle Personen eines Geschlechts oder einer Sexualität über einen Kamm und suggerieren damit ein allgemein geltendes Bild, wie man sich zu kleiden hat, wie man sich zu verhalten hat und vor allem wie viele Sexual-Partner pro Individuum okay sind. Das ist der heißeste Scheiß auf TikTok.

Verrate deinen sogenannten Bodycount und lasse andere diesen bewerten. Wohoo, wir machen fünf Schritte zurück in Richtung Steinzeit und lassen uns darüber definieren, wie viel wir wert sind anhand der Anzahl der Geschlechtspartner, die wir hatten. Moderiert wird das nicht, obwohl die Richtlinien anderes vermuten würden. Natürlich kann man solche Videos einfach wegscrollen, aber wenn man sich ansieht, dass solche Videos zum Teil mehrere hunderttausend Likes und tausende Kommentare bekommen, in denen von Heranwachsenden darüber debattieren, ob drei oder dreißig Sexualpartner die sogenannte „Ehre“ beeinflussen, hat die App schon einen sehr bitteren Beigeschmack.

Es ist leicht zu konsumierender Content, der für jeden zugänglich ist. Ich für meinen Teil, denke mir jedes Mal, dass ich mit Mitte zwanzig zu alt dafür bin. Doch das Gefühl direkt angesprochen und unterhalten zu werden, scheint das schlechte Gefühl, nach dem Benutzen der App zu übertünchen. Wie ein schlechter Trip. Schaut man sich danach noch einmal Instagram an, wirkt die einstige Nummer eins wie ein schlechter Facebook-Abklatsch. Langsam und langweilig. Als würde man vom Rave in die Kinder-Disco kommen. Ich verstehe den Hype um TikTok absolut. Es ist schnell, dynamisch und vor allem endlos. Und das macht die Sache so gefährlich. Zumindest für mich. Es fällt mir schwer zu unterscheiden, was echt und was nur für die Kamera produziert wird. Doch das nehme ich in Kauf. Ganz egal, wie schlecht der Content ist, bin ich hier wie die meisten nur auf der Suche nach dem nächsten Kick. TikTok ist meine persönliche digitale Droge geworden.

Du willst mehr lesen? Kein Problem! Auf meinem Blog catchmerandom findest du weitere Kolumnen von mir.

Autorin:

Janna