„Spasibo dedu za pobedu!” „Danke Großvater für den Sieg!“ – Nicht erst seit diesem Jahr,
75 Jahre nach Ende des Großen Vaterländischen Krieges, wie der Zweite Weltkrieg in Russland
genannt wird, kann man diesen Slogan auf unzähligen Heckscheiben russischer Autos sehen. Der
russische Präsident, Wladimir Putin, wird vor kurzem in einem Interview mit einer der größten
inländischen Nachrichtenagenturen, TASS, gefragt wie er diese Form von Erinnerungskultur
finde. Seine Antwort: „Spasibo dedu za pobedu! – otlično.“ – großartig also.
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Auf die Frage wie angebracht er Slogans wie „Wir können es wiederholen!“ („Можем повторить!“) oder „Auf Berlin!“ („На Берлин!“) halte, wird der Präsident nachdenklich. Putin kneift seine Augen zusammen und spricht von dem unverzeihlichen Angriff der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion und von den 27 Millionen Menschenleben, die der Krieg dieses Land gekostet habe. Einen Verlust wie ihn kein anderes Land in dieser Dimension tragen musste. Der Präsident: „Russland habe nicht vor die Geschichte zu wiederholen. Das stünde und stand nie in den Bestrebungen der Politik. Jedoch… sollte
jemand ein ähnliches Vergehen wagen, so reiche es sich an die Worte Alexander Newski’s zu
erinnern ‚Wer mit dem Schwert zu uns kommt, wird durch das Schwert fallen‘.“ Wie wird in
Russland an den Krieg erinnert? Braucht es Militärparaden, die sich Jahr um Jahr in Größe
übertreffen? Und wer wird bei dem vielen Erinnern vergessen?
Russische Erinnerungskultur
Der Historiker Ivan Kurilla, Professor an der Europäischen Universität in Sankt Petersburg,
merkt im Februar diesen Jahres bei einem Vortrag an, dass das Sprechen über den Krieg immer
weniger und weniger mit den Teilnehmenden des Krieges geschieht – anders noch als zur
Sowjetzeit. Damals waren z.B. Schulbesuche von Veteranen ein fester Bestandteil des 9. Mai’s.
Doch heute verblassen diese Zeitzeugen immer mehr aus dem öffentlichen Diskurs und das
Erinnern wird von der nächsten Generation übernommen. Hier sieht Kurilla eine Gefahr: „Wenn
wir nicht Zeuge von etwas waren, wird es zu einer Art Mythos und diesen kann man leicht
manipulieren.“ Nach dem Zerfall der Sowjetunion folgte die russländische Identitätskrise, so
Kurilla, und in dieser habe es nur einen Punkt der politischen Übereinstimmung in der
Bevölkerung gegeben: Die Wichtigkeit des Erinnerns an den Großen Vaterländischen Krieg.
Seit dem Machtantritt Wladimir Putins vor gut zwanzig Jahren wird der Mythos des Sieges immer
weiter ausgeschmückt und zur Stärkung einer nationalen Identität verwendet. Um nicht zu sagen
missbraucht.
Das Unsterbliche Regiment
Dass es beim Gedenken an den Krieg nicht um militärische Muskelspiele auf dem Roten Platz geht, wollte die zivile Bewegungen Bessmertnyj polk auf Deutsch Das Unsterbliche Regiment zeigen. Sie wurde 2011 unter anderem von Sergej Lapenkow ins Leben gerufen. Ein
Gedenkmarsch bei dem BürgerInnen mit dem Foto eines Kriegsveteranen schweigend durch die
Stadt ziehen. Jeder kann teilnehmen. Einzige Regel: Es muss ein Familienangehöriger sein.
Darüber hinaus hat Lapenkows Team ein Online-Archiv auf die Beine gestellt, in welchem die
Geschichten der Veteranen gesammelt werden. Die Bewegung wuchs Jahr um Jahr. Waren es
2012 rund 6000 Teilnehmende – in nur einer russischen Stadt – so sind es laut Angaben der
Veranstalter 2015 über 5 Millionen in 21 Ländern gewesen. Im Ursprung ein unpolitischer, ziviler
Gedenkmarsch – entstanden um vor lauter Siegeswahn die Opfer nicht aus den Augen zu lassen –
wird dieser Marsch nun seit 2015 von Putin angeführt. Er trägt das Bild seines Vaters. In einem
TED Talk in Almaty, Kasachstan, spricht Lapenkow, über die Vereinnahmung dieser Bewegung
durch politische Akteure. Er habe nichts dagegen, dass Putin mitmarschiere, denn er sei ja auch
nur Sohn eines Veteranen. Doch Lapenkow, sichtlich um Fassung ringend, spricht davon, dass
die Bewegung 2015 unter staatliche Hand gestellt wurde und nun zu weiten Teilen von
Staatsbeamten koordiniert wird. Nicht nur Bilder der eigenen Familie werden zum Gedenken in
die Luft gehalten, nein – auch Stalin oder kämpfende russische Soldaten in der Ostukraine finden
ihren Platz in der Masse. Die Bewegung zur Legitimierung zukünftiger Kriege zu missbrauchen
nennt Lapenkow „einen Verrat an dem Gedenken unserer Vorfahren.“ Doch wie soll es
weitergehen?
Erinnerung in Zeiten von Corona
2020 drängt Corona auch das Erinnern an das Kriegsende und somit auch den Gedenkmarsch
Das Unsterbliche Regiment ins Digitale. So hat der Streaminganbieter Okko – gemeinsam mit dem
größten russischen Finanzinstitut Sberbank – das Projekt pobeda.okko.tv ins Leben gerufen.
Sberbank ist überwiegend in staatlichem Besitz – wohl ein eher nicht überraschender Fakt. Die
Webseite pobeda.okko.tv ermöglichte es aus dem heimischen Wohnzimmer an einer Art Online
Gedenkmarsch teilzunehmen. Zuschauende konnten Bilder ihres Angehörigen hochladen und
seine Geschichte niederschreiben. Darüber hinaus finden sich auf der Seite Konzerte und Filme
rund um das Thema des Zweiten Weltkrieges. Der Erlös des Streamens kostenpflichtiger Inhalte
geht dabei an einen Fond zur Unterstützung von Kriegsveteranen. Auf einen offenen Brief
Lapenkows und seines Teams mit der Bitte die Bewegung in ihrem Kern unpolitisch und zivil zu
belassen und so auch vor einer Bürokratisierung zu schützen, hat der Präsident bis heute nicht
geantwortet.
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