Tausche Verkehrsgedränge gegen Kundenansturm?
Weniger Autos auf den Straßen Berlins – davon träumen Fahrradfahrerinnen und Fußgängerinnen. Diesen grünen Wandel nicht kopflos begehen und alle Parteien berücksichtigen – das wünschen sich unter anderem Autofahrerinnen. In Berlin Mitte wurde gerade mit Verzögerung das Modellprojekt “Friedrichstraße autofrei” gestartet. Bis Anfang 2021 fahren auf einem Abschnitt der sonst stark frequentierten Verkehrsader nur Fahrräder.
Der erste Montag nach der Eröffnung: In der Mitte der Straßenschlucht ist in gelb eine breite Fahrspur eingezeichnet. Die Bänke der Cafés ragen weit bis in die Straßenmitte hinein, alle paar Meter steht ein etwas unbeholfen auf den Asphalt geklotztes Bäumchen – ein Blickfang mitten in der Betonwüste. Fahrräder ziehen, allein oder in Kolonnen stierig durch die die Häuserschlucht – als neue Herrscher der Friedrichstraße.
Eine übers Knie gebrochene Oase der Ruhe?
Das wissenschaftlich begleitete Modell des Senats für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz sowie des Bezirks Mitte trägt offiziell den Titel Flaniermeile Friedrichstraße. Die Flanierfreundlichkeit soll Berlinerinnen und Anreisende einladen, den Einzelhandel anzukurbeln. Beliefert wird dieser über die Seitenstraßen.
Die holprige Eröffnungsphase ist wie so oft Sinnbild für einer Berliner Verkehrspolitik und Stadtplanung voller Schlaglöcher aber auch Aushängeschilder mit Leuchtturmeffekt.
Pop-Up-Fahrradwege, 19 Milliarden Euro für die BVG. Ach, und da war ja noch das erste städtische Mobilitätsgesetz seiner Art von 2018. Zur Stärkung der Rolle von Fuß- & Fahrradfahrern sowie des Öffentlichen Nahverkehrs.
Immerhin 30 Mio. € wurden 2020 für den Ausbau von Fahrradwegen veranschlagt, Tendenz in den nächsten Jahren steigend. Kleiner Seitenhieb: Auf dem vom Bund finanzierten Ausbau des Berliner Stadtrings A100 quer durch Wohngebiet – derzeit die teuerste Autobahnbaustelle der Republik – entspricht das dem Wert von 162 Metern (!) Autobahn.
Es muss wieder ein Leuchtturm her
Über Monate kam kein überzeugendes Konzept für alle Parteien zustande. Wie kann der Freiraum auch attraktiv genutzt werden? Und wie können die Kundinnen über eine Straße flanieren, auf deren Mitte die Fahrräder flitzen? Und ist das Konzept auch passgenau für die Friedrichstraße?
Die Eröffnung wurde schließlich mehrfach verschoben. Die Feierlichkeiten zur Inbetriebnahme musste letztendlich abgeblasen werden – sie wurde im wahrsten Sinne des Wortes von demonstrierende Corona-Querdenker durchkreuzt.
Kann mit dem Pilotprojekt der Einzelhandel wiederbelebt werden? Und vertragen sich die verschiedenen Parteien, auf den neu gezeichneten Pfaden in Berlin Mitte? Bis Anfang des Jahres 2021 soll das Pilotprojekt laufen. Auf der Friedrichstraße wird sich zeigen, ob Flanierende, Radler-Flitzer und Kritikerinnen koexistieren können oder sich lieber in die Quere kommen.
GESPRÄCHSTOFF
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