Entlang der Berliner Mauer

Wenn ZeitzeugInnen Denkmäler überstrahlen

Gedenktafel Berliner Mauer in den Boden eingelassen auf dem Mauerweg in Berlin

Berlin-Lübars an der Grenze zu Schildow in Brandenburg. Suchend halte ich mein Smartphone in der Hand. Heute braucht es den blauen Standort-Punkt auf der Handy-Karte, um die Landesgrenze überhaupt erahnen zu können. Noch vor etwa 30 Jahren hätte ein Kugelgewitter seinen Dienst getan und natürlich die Berliner Mauer. Ausgestattet mit zahlreichen Mauerweg-Apps versuche ich herauszufinden: Wie erinnern wir heute an damals?

Nach etwa zwei Kilometern verfehle ich die erste Gedenkstele, die an die Mauertoten erinnern sollen. Ich streife durchs Gebüsch auf die dahinter liegende Schienen. Nichts zu finden. Es scheint, als würde nur meine App auf die Untat des Unrechtsstaates hinweisen. Sie zeigt mir an: Hier starb die 20-jährige Dorit Schmiel beim Fluchtversuch mit drei Freunden in einer verschneiten Februarnacht 1962 nach einem Bauchschuss durch Grenzbeamte. Die Spazierroute ist voller Spazierender, Familien, Pärchen, mit ihnen komme ich ins Gespräch.

Historie geht unter, wenn man nicht von ihr weiß

Eine von Ihnen wünscht: “Es wäre schön wenn hier noch mal ein Hinweis wäre. Ist überhaupt keiner an der Ecke. Dass da ab und zu doch ein deutlich Hinweis kommt: »Hier ist ein Teil der Mauer« oder so. Und gerade der Hinweis auf die Historie, er geht unter, wenn man es nicht weiß.”

Meine Unfähigkeit, die physischen Gedenkorte aufzufinden ist wohl nicht ausschließlich der Entkopplung durch digital devices – namentlich Smartphone – von der realen Umwelt geschuldet. Dabei sollen Stelen und Tafeln als Mahnmal der etwa 250 Opfer gedenken, die an der Berliner Mauer ihr Leben ließen.

Und wieder kann ich auf Anhieb keine physischen Hinweise finden. Nur die App “Berliner mauer” erinnert mich nach wenigen hundert Metern: Dr. Johannes Muschol (31) erschossen auf der Flucht von West nach Ost – an einem Tag wohl ähnlich sonnig wie heute. Und eine kurze Gehstrecke gen Süden: Horst Frank (19) verfangen im Stacheldraht, stirbt im Kugelhagel.

Das macht mich stutzig. Ich kenne ja das Mauermuseum, dort wollen Arbeitsgruppen möglichst jedes Opfer identifizieren und einen Namen geben. Die pompösen Gedenkstätten in Mitte. Bin ich der einzige hier im hohen Norden, der nicht mehr oder weniger Berliner Mauer war, abseits der Touristen-Hotspots lost ist?

Ein Spaziergänger konstatiert: “Ich komme ja aus der Zeit. Eigentlich ist es nicht wichtig. Es ist bedauerlich, dass Leute verhindert wurden, ihren eigenen Weg wählen zu wollen und erschossen werden. Das ist traurig auf eine Art und Weise, bloß heute haben wir andere Kümmernisse.”

Das stößt mir doch auf. 40 Jahre Unrechtsstaat und keine 30 Jahre schon neue Probleme, die wichtiger seien? Trotz Antipathie bleibt auch Faszination: Mir steht ein echter Zeitzeuge gegenüber. Auch wenn uns unsere Ansichten trennen, dann doch zumindest keine Mauer mehr. Aber ob Vergessen hier der richtige Ansatz wäre?

Der Mauerweg als lebendiges Geschichtsbuch

Schienen in Berlin, die scheinbar Richtung Sonnenuntergang führen entlang der ehemaligen Berliner Mauer

“Es könnte mehr [Erinnerung] sein”, lamentiert eine eingesessene Reinickendorferin. “Wir haben da vorne eine Tafel, die wird immer wieder zerstört. Es waren zwei, jetzt haben wir nur noch eine. Und es gibt hier ein paar. Es ist schlimm, es wird kaputt gemacht. Wie es noch Wildnis war, war es wesentlich sauberer. Die Kinder spielen auf dem Weg rum. Die Leute werfen ihre Sachen rum. Und man kann es nicht machen.”

Klar, viele wollen einfach spazieren. Überhaupt lädt der Weg zum Verweilen und Spielen ein. Mountainbike-Rampen, Wiesen, Pferde, Flüsse und Seen. Aber nicht alle begrüßen die Eventisierung des Mauerwegs. In den Gesprächen erlebe ich die größten Aha-Momente. Unbekannte werden zu Bekannten. Die Fragezeichen in meinem Kopf werden zu sichtbaren Konfliktlinien einer demokratischen Gesellschaft. Und auch das Unsichtbare wird sichtbar: Warum sind die Leute hier? Vor- und Fremdurteile bestätigen sich oder verfliegen. Aber viele tragen eben auch ihre eigene Historie mit Mauerfall-Bruch in sich. Und ehe man sich versieht, ist man mitten im Geschichtsdiskurs.

“Naja, ich denke, die Zeit ist sehr schnelllebig”, so erzählt mir ein älterer Herr, dem ich auf dem Weg begegne. Mit glänzenden Augen schaut er ins Nichts. “Und Tegel geht verloren, was ich begrüße. Aber auf der anderen Seite: Das Gedächtnis ist ein teuflisches, es geht verloren. Und darum ist immer gut, wenn von einer Generation zur anderen solch Dinge weitergetragen werden.”

Es lohnt sich also wirklich vom Handy aufzuschauen und ja, auch mal einen Hinweis zu verfehlen. Im Gespräch beginnt das Gedenken.

Folge couchFM Reporter Martin entlang der Mauer:


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Martin