Filmrezension – All Of Us Strangers

Einsamkeit, Trauer und Träume

Ein noch fast leer stehender Apartmentkomplex, Home-Office, keine Bekannten: Adam scheint isoliert und abgekapselt von der Welt. Erst als er seinen mysteriösen Nachbarn Harry kennenlernt, ändert sich das schlagartig. Zwischen der Romanze, die sich zwischen den beiden entwickelt, und dem regelmäßigen Besuchen seiner Eltern, muss Adam die verpassten Gelegenheiten seines Lebens neu reflektieren.

 


Adam in seinem Apartment in London. | Foto: © Chris Harris/ The Walt Disney Company


London ist mitsamt seinen rund 9 Millionen Einwohner*innen in ein tiefes Blau getaucht – Der Tag hat noch nicht ganz begonnen, und die Stadt scheint zu schlafen, als Adam durch die Glaswand seines hoch gelegenen 1,5 Zimmer Apartments auf sie herabblickt.  Der Himmel färbt sich grau, dann wieder blau und wird schließlich dunkel – Adam bewegt sich vom Schreibtisch aufs Sofa und ins Bett. Ruhe oder Einsamkeit? 

Die anderen Wohnungen in dem riesigen Apartmentkomplex, in dem er wohnt, stehen leer; es scheint, als wäre noch niemand eingezogen – Fast niemand. Denn einige Stockwerke unter ihm wohnt Harry. 

Erst reagiert Adam zögerlich und abweisend, doch dann kommen sich die beiden schnell näher, schlafen miteinander, tauschen sich aus über ihre eigenen Erfahrungen mit Sexualität und Beziehungen,  Kindheit und Familie. Adam erzählt Harry seine Eltern seien tot – Kurze Zeit später besucht er sie in der kleinen Vorstadt Londons, in der er auch  aufgewachsen ist.

Eine Geistergeschichte…?

Die Gespräche und nachdenklichen Szenen entfalten sich in der ersten Hälfte des Filmes ein wenig wie ein Puzzle, das man während der vielen mit Musik hinterlegten Sequenzen von Zugfahrten versucht zusammenzufügen. Die Realität vermischt sich mit Erinnerungen und Träumen, während Adam irgendeine Form von Intimität und Liebe zu suchen scheint. Dabei kriecht einem die Einsamkeit, die er fühlt, förmlich unter die Haut. 

“Ich habe mich in meiner Familie immer wie ein Fremder gefühlt”, vertraut Harry ihm an. Als Zuschauende wissen wir bereits, dass es Adam ähnlich ging – Und immer noch geht. Auf Szenen, in denen seine Eltern zögerlich oder sogar abweisend auf ihn reagieren, folgen die, in denen Harry ihn tröstet, hilft zu baden und  mit in den Club nimmt.

Kann romantische Liebe die der Familie ersetzen? Und wie vergibt man seinem Vater? Und erreicht man irgendwann ein Alter, in dem man die Umarmung der Eltern nicht mehr braucht? Oder bleibt man auf gewisse Weise immer Kind? 



Ein Wiedersehen: Adam mit seinen Eltern am Küchentisch. | Foto: Chris Harris/ The Walt Disney Company


Verschwimmen der Grenzen

Die zentralen Fragen, die der Film stellt, scheinen sich besonders im Leben queerer Menschen wiederzufinden. Als Regisseur Andrew Haigh anfing das Skript zu schreiben, war das noch nicht geplant – Als Inspiration diente der Roman Strangers von Taichi Yamada, der allerdings in Tokyo und nicht in London spielt. Auch ist der Protagonist des Romanes eigentlich nicht queer. Andrew Haigh begann allerdings während der Pandemie am Film zu arbeiten. “Ich glaube, alle von uns haben sich ein wenig emotional nach innen gerichtet und über unser Leben nachgedacht, unsere Beziehungen, und wen wir geliebt und verloren haben”, sagte er im Interview. Die Aspekte aus seinem eigenen Leben seien beim Schreiben einfach durchgesickert.  Das ging so weit, dass er auch für den Dreh das Haus vorschlug, in dem er selbst aufgewachsen ist – Im Nachhinein stellte sich das zwar als unglaubliche Belastung heraus, er gab allerdings an, trotzdem froh zu sein, es getan zu haben.

Auch Schauspieler Andrew Scott, der Adam verkörpert, versetzte sich in sein jüngeres Selbst und griff auf seine eigenen Erfahrungen als schwuler Mann in den 80ern aufzuwachsen zurück.So fühlt sich der Film auch außerhalb der sexuellen Szenen unglaublich intim und persönlich an, was von Soundtrack und Kinematographie noch weiter unterstrichen wird. 

Auf diese Intimität, die auch von einer gewissen Ruhe geprägt ist, muss sich erst einmal eingelassen werden – Tut man dies allerdings, dann begleitet All Of Us Strangers einen noch eine ganze Weile. Denn trotz des fast greifbaren Gefühles von Einsamkeit und Verzweiflung, die einen während des Filmes ergreifen, fühlt man sich beim Verlassen des Kinosaales dann doch getröstet, irgendwie verstanden und ein Stück weniger einsam. 

Weiterführende Links: Der deutsche Trailer zu Film


Autorinnen:

Eleonore Foss