Kulturkompass: Glasbläserinnen

Ein heißer, präziser Tanz für eine
zerbrechliche Kunst

Wir trinken daraus und sehen hindurch. Was die meisten nicht wissen: Glas ist ein Zustand. Er entsteht, wenn eine heiße Mischung aus Quarzsand, Soda und Kalk so schnell abkühlt, dass sich kein festes Kristallgitter bildet. Stattdessen verharrt die Schmelze in einem Zwischenstadium zwischen hart und fest. 

Die eine oder den anderen reizt es, die Chemie und Physik der Natur auszuloten, und das amorphe Gemisch unter schweißtreibender Arbeit zu bändigen – Glasbläserinnen.

Wettlauf gegen die Zeit


Bei Berlin Glas e.V. im Stadtteil Reinickendorf findet man sie. Hier unterrichtet Rudy zwei Nachwuchs-Glasbläserinnen. Obwohl die Nacht kühl ausfällt, herrscht im Studio eine mollige Wärme. Kein Wunder – zwei Öfen brennen bei 1500°C und 1300°C. 

Die folgende 45-minütige Unterrichtseinheit gehört Vivi. Sie lernt das Handwerk seit einem Jahr und wird versuchen, ein zweifarbiges Gefäß zu blasen – aus blauer und weißer Farbe. Zunächst schöpft sie das Material aus dem heißeren der beiden Öfen. Sie tunkt die Spitze einer anderthalb Meter langen Glasbläserpfeife hinein und ertastet das Quarzsand-Gemisch im blendenden Kessel. Wie Honig lässt es sich aus dem glühend heißen Becken schöpfen. Ab dann beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Zwar wird die Masse im Schmelzofen immer wieder formbar gemacht, im Grunde kennt sie ab hier jedoch nur eine Richtung: Fragiler, brüchiger, unumkehrbar, fast Stillstand, Glas.

 

Immer wieder wird das Material vor die Öffnung der Pfeiffe bewegt – durch Schwerkraft und Werkzeuge. Dort kann es durch kräftiges Pusten aufgebläht werden. Dann wird die Vase wieder erhitzt. Denn nur, wo das Glas heiß ist, verformt es sich. Darum werden andere Stellen auch gezielt abgekühlt – ihre Form bleibt starr. 

 

Warum heißt es eigentlich nicht Glasdrehen?

 

Teamarbeit ist das Wichtigste. Der Lehrer Rudy, Vivi und Assistentin Hilary vollziehen einen Tanz in einem Bereich, der Unbefugten zurecht verboten ist – zu viel heißes Material, Öfen, Flammenwerfer. 

Die Farben blau und weiß werden addiert. Dazu werden Klumpen aus farbigem Glas auf den Rohling geschmolzen und verlaufen darauf. Die Pfeiffe mit dem heißen Glas an einem Ende muss ständig rotiert werden. Warum heißt es eigentlich nicht Glasdrehen?

Vor den Öfen gibt es keinen Stillstand, die Vase nimmt Form an. Und da passiert es: Eine falsche Absprache unter der Assistierenden und dem Lehrer sorgt dafür, dass die Öffnung der Vaseim Glasofen verschmilzt. Um das Gefäß wieder zu öffnen, muss das Ende abgetrennt werden, was die Größe insgesamt schmälert. Die Verantwortlichen entschuldigen sich. Doch jetzt ist Pragmatismus gefragt. Und schon bald erstrahlt das Gefäß in neuer Blüte.
Am Schluss wird das Kunststück in die Verwärmtrommel gelegt, damit es langsam abkühlen kann und nicht zerplatzt. Zu dieser abschließenden Zeremonie klatschen und jubeln die Anwesenden. Sie freuen sich mit und für Vivi.

Sie selbst wirkt erleichtert und resümiert: “Ja, es ging einiges schief, aber am Ende war’s ok. Kennst du immer diesen Stereotyp von Leuten, die in der Küche arbeiten? Und alle schreien sich irgendwie an, wenn alles vorbereitet wird. Und danach ist alles cool. Und so ist es auch ein bisschen in dem Moment. Man klingt gestresst, weil man versucht, etwas zu kontrollieren, was ich noch nicht so wirklich in der Hand habe.”

 

 


KULTURKOMPASS

 

 


Autor:

Martin