Poets’ Corner auf dem Poesiefestival

Experimentelle Sprachwelten

Zeitgenössische Lyrik − wie sie klingen kann, konnte man bei den Lesungen der Poets´ Corner und auf dem Poesiefestival in Berlin erleben: Junge Menschen, die gegenwärtigen Lebenswelten nachspüren und sprühende Kunstwerke aus Sprache erschaffen. Wissenschaft und Poesie aufeinanderprallen lassen oder auf originelle und erschütternde Weise nach der Zukunft der menschlichen Spezies fragen. Lyrik geht uns auch heute viel an und schafft ungeahnte Ausdrucksmöglichkeiten, die berühren.


KULTURKOMPASS

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Heliographen im Anflug der Stadt

Auf dem Poesiefestival in Berlin findet jährlich Lyrik aus der ganzen Welt zusammen. Das Haus für Poesie hat dieses Jahr unter dem Motto „no one is an island“ 141 Lyriker*innen eingeladen. Zum Einstimmen fanden zwischen dem 04.06. und 08.06. verstreut in den Berliner Bezirken die Veranstaltungen der Poets´ Corner statt. Poets´ Corner versammelt kleine gemütliche Lesungen, meist draußen im Grünen, denen man in familiärer Atmosphäre lauschen kann.

Unter dem Titel „Weltraum in der Tragetasche“ leuchteten besonders experimentierfreudige Sprachkunstwerke in den Himmel. Auf dem Gelände des Zentrums für Kunst und Urbanistik in Moabit saßen die Künstler*innen auf einer erhöhten Bühne, die Zuschauer gruppierten sich auf Bierbänken davor. Untermalt von Vogelzwitschern erfüllten zeitgenössische Texte die Luft, die Umwelt, Raumfahrt, städtisches Leben und den Bestand der menschlichen Spezies thematisierten. Die jungen Schriftsteller Johannes Rosenberg und Marius Goldhorn habe ich nach ihrer Lesung zum Gespräch getroffen.

„[…] taumelnde Fledermäuse am Nachthimmel, die die parabelförmige Stauchung und Dehnung eines Signals beschrieben, leuchtende Flüssigkeit, die sich über die Bäume unten am Fluss ergoss.“ (aus “Das Medium“)

Wenn Johannes Rosenberg aus Worten einen Kosmos spinnt, treffen Wissenschaftssprache, städtische Geografie, Natur, und alltägliches Erleben in starker Bildhaftigkeit aufeinander. Man durchstreift förmlich den zeitlosen und doch futuristisch anmutenden textalen Urwald, dessen Musikalität und originellen Wendungen man als Zuhörer*in gebannt folgt. Durch Farben- und Kontrastreichtum erhält der Text eine Unmittelbarkeit, deren Sog man sich kaum entziehen kann. Das Prosagedicht erzählt von einer nur scheinbar parallelen Wirklichkeit, die von aktuellen Fragen und gesellschaftlichen Entwicklungen durchwirkt ist.

Manche Wikipedia-Artikel, so der Stipendiat des Berliner Studierendenwerks schmunzelnd zu seiner Vorliebe für wissenschaftliche Begriffe, seien lyrischer und poetischer als veröffentlichte Gedichtbände. Solche spritzigen Thesen und deren poetische Praxis machen gespannt auf mehr.

Von Auberginen und dem Aussterben

„X-tinktion. X-risk. exit. ext. Text.“ Vielleicht ist Marius Goldhorns Gedicht (Debütroman „Park“ 2020) ein vorweggenommenes Erleben der Zukunft, das so tut, als sei diese längst Vergangenheit. Die Menschheit ist im Aussterben begriffen und der Schreibende findet sich an seinem Schreibtisch sitzend „postextinkt“ wieder. Von diesem Aussterben erzählt Marius Goldhorn mit erstaunlicher Sprachlust und großem Esprit. Der Text persifliert und erinnert zugleich mit vollem Ernst an die Rolle des Menschen im Aussterbevorgang. Er zeigt, worauf der Mensch zurückgeworfen ist, wenn die Lebensräume des Planeten zugrunde gehen. Aus den existenziellen Fragen, eingebettet in einen absurden Alltag, spricht eine Unmittelbarkeit, die erschüttert. „Der Text ist im Endeffekt nur eine Erinnerung daran, dass, wenn in der Natur etwas geschieht, es den Menschen eben auch betrifft“, so der Autor. Marius Goldhorn vermittelt in einem spannungsreichen Tempo eine wirksame Medizin: Die Imagination.

„[…] nur diesmal sind Auberginen involviert. Und diesmal ist das Aussterben involviert. Essen ist nicht einfach. Der ganze Planet ist auf Essen aufgebaut. Gott muss Photosynthese betreiben.“ (aus „X-tinktion. X-risk. exit. ext. Text.“)

„Ich stell mir immer vor, dass die Menschheit sich vor diesem Aussterben rettet, indem sie die Imagination [schafft] auszulagern.“ In womöglich, so der Autor, langfristigere Wesen. „[…] ich stell mir das immer so vor“, spinnt Marius Goldhorn weiter, „dass das Leben eigentlich forscht. Mit den Fischen erkundet das Leben das Meer, mit den Vögeln oder den Flugsauriern erforscht es die Lüfte, und mit dem Menschen hat das Leben einen neuen Forschungsraum eröffnet“, nämlich den der Imagination. Solche Ideen forterzählend kann auch das aussichtsloseste Thema zu einer inspirierenden Quelle von Lebenskraft und Originalität sein.

Weiterführende Informationen

Veranstalter der Poets’ Corner und des Poesiefestivals
Programm und Infos rund ums Poesiefestival
Texte von Johannes Rosenberg zum Nachlesen
Texte von Marius Goldhorn zum Nachlesen

 


Autorin:

Johanna L.