Erinnerungskultur – 35 Jahre nach Tschernobyl

Ein Interview mit Expertin Frau Dr. Astrid Sahm

Am 26. April wird alljährlich der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl gedacht. In den Medien hört und liest man zum Jahrestag von Liquidatoren, Rettern oder Helden, die im Einsatz waren, um den Brand der Explosion zu löschen. Aber wer waren diese Menschen? Für die HBO Kurzserie „Chernobyl“ von 2019 hagelte es genauso Lob wie Kritik. Aber ist so eine filmische Inszenierung auch eine Form des Erinnerns?

Über Erinnerungskultur im Zusammenhang mit Tschernobyl habe ich mit Dr. Astrid Sahm gesprochen. Sie forscht zu Osteuropa und Eurasien und sie ist Geschäftsführerin des Internationale Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) mit Zweigstellen in Deutschland, Belarus und der Ukraine.

 


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GESPRÄCHSTOFF

 

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Frau Dr. Sahm, worum geht es bei Ihrer Arbeit beim IBB?

Wir haben eine Devise, die nennt sich „gemeinsam erinnern“, um aus Vergangenem zu lernen, und in der Gegenwart gemeinsam Zukunft zu gestalten. Uns geht es sehr stark darum, einerseits zu erinnern andererseits aber auch praktische Konsequenzen zu ziehen.

In Charkiw in der Ukraine haben wir die “Geschichtswerkstatt Tschernobyl” aufgebaut, mit dem dortigen Liquidatoren-Verband. So werden die Rettungskräfte genannt, die am Reaktor und in der Sperrzone eingesetzt waren. Wir kümmern uns um die Betroffenen und arbeiten mit Zeitzeugen an Schulen, auch in Deutschland, damit Schüler direkt aus dem Mund der Zeitzeugen erfahren, was Tschernobyl bedeutet hat damals und auch für das heutige Leben.

Daneben setzen wir uns für soziale Inklusion und Nachhaltigkeit ein. Letzteres ist ja auch eine Konsequenz aus Tschernobyl: Das Bewusstsein darüber, dass wir nachhaltiger mit natürlichen Ressourcen umgehen müssen.

Wie sind Sie zum IBB gekommen?

Mit dem IBB bin ich schon Anfang der 90er Jahre in Berührung gekommen bei einer meiner Reisen nach Minsk. Das IBB hat damals sehr viele Konferenzen organisiert. Mitte der 90er Jahre gab es etwa tausend Tschernobyl-Initiativen in Deutschland – das war einfach eine breite gesellschaftliche Bewegung.

Wenn ihr als Deutsche etwas tun wollt für Versöhnung, dann helft uns, dass unsere Kinder nach Tschernobyl eine Zukunft haben

Was ist die Gründungsgeschichte des Vereins?

Die Einrichtung wurde als Verein gegründet ausgehend von dem Gedanken der Versöhnung für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, aber weil die ersten Begegnungen im Kontext von Tschernobyl stattfanden, war eines der zentralen Gesprächsthemen die Botschaft von den belarussischen Menschen, denen wir begegnet sind: Wenn ihr als Deutsche etwas tun wollt für Versöhnung, dann helft uns, dass unsere Kinder nach Tschernobyl eine Zukunft haben. Deswegen sind der Versöhnungs-Gedanke und der Tschernobyl-Gedanke eng verbunden.

Sie sagten soeben, Sie arbeiten mit Zeitzeugen, damit Schüler „direkt aus dem Mund der Zeitzeugen erfahren, was Tschernobyl bedeutet hat damals und auch für das heutige Leben.“ Was bedeutet Tschernobyl?

Tschernobyl ist die erste globale technogene Katastrophe gewesen. Sie hat gezeigt, dass eine vom Menschen gemachte Technik Auswirkungen hervorrufen kann, die binnen weniger Zeit den gesamten Erdball umfassen. Es sind bis heute noch Folgen zu sehen. Beispielsweise ist Wildschweinfleisch immer noch über die Grenzwerte belastet in Süddeutschland. In Bayern gibt es Stellen, die ähnlich stark belastet sind wie in Belarus, mit 1 Curie/km2. Auch in Wales, Schottland, war es noch vor zehn Jahren verboten Schafe zu schlachten, weil auch hier eine zu hohe Kontamination vorhanden war.  

Aber Tschernobyl ist viel mehr: Eine politische Systemkatastrophe, auch eine soziale, psychologische und wirtschaftliche. Und für die Menschen, die direkt betroffen wurden, die ihre Heimat aufgeben mussten deswegen – das sind mehrere 100T Menschen – für die gibt es ein Leben vor und nach Tschernobyl.

Ist Tschernobyl eigentlich noch immer? Kann das so gesagt werden?

Für jemanden, der damals seine Heimat aufgeben musste, für den ist es noch immer, weil er diese Heimat für immer verloren hat und das ist nichts was aufhört. Das ist etwas, was nächste Generationen noch prägt, weil ihnen bestimmte Dinge erzählt werden oder auch, weil Menschen traumatisiert sind und ihre Traumata an ihre Kinder weitergeben.

Menschen die dort weiterhin noch leben, die können das verdrängen, zumindest zeitweise oder für sie ist es nicht von dieser Relevanz.  Aber wie wichtig oder zentral Tschernobyl ist, das zeigt sich auch daran, dass mehr als die Hälfte der Menschen, die 1986 über 18 Jahre alt waren, auch heute noch ganz genau wissen, was sie an dem Tag gemacht haben, an dem sie von der Katastrophe erfahren haben.

Wenn Smartphones damals existierten, hätte das geholfen, den Reaktorunfall besser in den Griff zu bekommen?

Fukushima ist ja schon später passiert und wir haben auch hier wieder ähnliche staatliche Verhaltensmuster gesehen.

Wie erklärt sich das?

Natürlich haben politische Akteure – oder wirtschaftliche Akteure auch – ähnliche Ängste und es ist offensichtlich immer erstmal naheliegender kurzsichtig zu denken. Zu suggerieren, es sei alles unter Kontrolle oder nicht so schlimm. Damit sind ja auch Schadenersatzansprüche verbunden. Dann hat man oft Angst, es entsteht Panik, dadurch würde alles schlimmer. Und man müsse Panik begrenzen. Es ist auch Angst vor Gesichtsverlust. Also eine Vielfalt von  Gründen, wirtschaftlicher und politischer Art. Und häufig ist es leider so, dass nicht im größeren Zusammenhang gedacht wird.

Wie geht es den Betroffenen von Tschernobyl heute?

Sie haben keine ausreichende gesundheitliche Versorgung, gerade in der Ukraine. In Belarus ist sie besser entwickelt. Aber in der Ukraine ist sie im deutlich schlechteren Zustand. Und wenn jemand Krebs hat usw. muss er sehen, wie er die Medikamente selber bezahlt und das ist wirklich zum Teil sehr bedrückend.

Gleichzeitig ist es so, dass die Menschen wissen, dass der Staat natürlich nicht von heute auf morgen umgekrempelt wird und sich in gewisser Hinsicht damit abgefunden haben. Und ich teilweise mit meiner ukrainischen Partnerin, wir staunen darüber, dass die Menschen dann wenigstens die Orden wollen. 2016 gab es dann auch Debatten zu 30 Jahre Tschernobyl, ob man das Geld nicht besser anders investiert, fuer andere Zwecke. Auch wenn ein Abzeichen nicht viel kostet – wenn man 200T Orden druckt, dann ist es doch ein gewisser Posten. Und da waren es gerade diese Tschernobyl-Liquidatoren-Verbände, die sehr wohl diese Orden haben wollten. Wenigstens diese Aufmerksamkeit. Und ein Tag dann. Sozusagen im Mittelpunkt stehen. Es ist sehr komplex und paradox.

Orden
Von Hsq7278 – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, //commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79776697 (Urheber)

Während in Großbritannien der Heldenbegriff ganz selbstverständlich verwendet wird, „Heroes of Tschernobyl“ , ist es etwas, was uns im Deutschen doch eher fremd ist, einfach von Helden zu sprechen

Was sagen diese Menschen zu Ihnen, wenn sie sehen, dass Sie sich für deren Geschichte und Schicksal engagieren?

Für sie war es sehr wichtig zu Zeitzeugen-Gesprächen eingeladen zu werden, weil es sie in dieser Form nicht gegeben hat. Und sie haben gesehen, dass deutsche Schüler und auch in anderen Ländern – wir haben das bis zu zwölf europäischen Ländern durchgeführt – teilweise ganz andere Fragen stellen, als die Kinder in der Ukraine, bei denen der Fokus auf dem Heldenaspekt liegt. Ähnlich, wie bei den Gesprächen mit Veteranen des Zweiten Weltkriegs. Da ist die britische Erinnerungskultur und unsere z.B. ganz unterschiedlich. Während in Großbritannien der Heldenbegriff ganz selbstverständlich verwendet wird, „Heroes of Tschernobyl“ , ist es etwas, was uns im Deutschen doch eher fremd ist, einfach von Helden zu sprechen.

Wenn sie den Brand nicht gelöscht hätten, dann wären wir hier ganz anders verstrahlt worden 

Von wem spricht man in Deutschland?

Wir haben den Begriff „Retter Europas” geprägt. Was auch eher zum Ausdruck bringt, was sie geleistet haben. Dass es nämlich nur durch ihren selbstlosen Einsatz möglich wurde, dass wir in Resteuropa nicht so viel von der Strahlung abbekommen haben. Weil, wenn sie den Reaktor nicht unter Kontrolle, den Brand nicht gelöscht hätten, dann wären wir hier ganz anders verstrahlt worden. Das ist auch wichtig zu erinnern, dass wir nur deswegen so glimpflich davon gekommen sind.

Und jene, die tatsächlich aktiv den Brand gelöscht haben, sind heute noch am Leben?

Einige wenige. Wir kennen eine Person, die war im Reaktor drin und hat damals geholfen einen Durchgang zu ermöglichen. Einen Hubschrauberpiloten kenne ich, der Flüge geflogen ist in den ersten Monaten nach Tschernobyl.  Aber das sind wirklich nur noch sehr wenige Personen, die wirklich in den ersten Wochen und Monaten vor Ort waren.

Wie Individuen oder Gesellschaften erinnern ist eine Frage der Perspektive und das prägt auch unsere Sprache.  In Deutschland wird meistens von Vergangenheitsbewältigung gesprochen. Sie sprechen lieber von Erinnerungskultur. Warum?

Der Begriff Vergangenheitsbewältigung ist einer, den ich eigentlich vermeide, weil er nahelegt als ob man sich einmal mit der Vergangenheit beschäftigt hat und dann ist sie eigentlich abgeschlossen, man hat sie bewältigt. Aufarbeitung ist mir dann als Begriff schon näher, weil es heißt, dass ein offener Prozess zum Ausdruck kommt, weil man damit auch etwas anfängt. Und der Begriff der Erinnerungskultur ist in diesem Sinne noch einmal breiter, weil er zum Ausdruck bringt, dass man die Vergangenheit durch das Erinnern in die Gegenwart holt und das ein regelmäßiger Prozess ist. Und es gibt auch nicht eine Erinnerungskultur, d.h. nicht alle müssen sich gleich erinnern, sondern es existieren unterschiedliche Formen des Erinnerns an Vergangenes. In dem Sinne können natürlich Verdrängungsprozesse auch Teil von Erinnerungskultur sein, die man analysieren kann und die man zu gesellschaftlichen Debatten machen kann. Also, was das dann mit Gesellschaften eigentlich macht, wenn sie bestimmte Themen ausblenden.

„Die Katastrophe ist überwunden und ein normales Leben ist wieder möglich”

Wie sieht Erinnerungskultur in den betroffenen Staaten aus?

In Bezug auf Tschernobyl gibt es ganz unterschiedliche Formen wie, erinnert und kommuniziert wird auch wenn das Thema quasi ad acta gelegt wird. In Belarus und der Ukraine wird auf politischer Ebene nur noch an den Jahrestagen eigentlich wirklich daran erinnert. Wenn man jetzt nicht von den konkreten Betroffenen spricht, die sich auch organisiert haben, ist es sozusagen so: „Die Katastrophe ist überwunden und ein normales Leben ist wieder möglich”. Gerade in Belarus hat der seit 1994 amtierende Präsident Lukaschenko es zu seiner Aufgabe gemacht, die Gebiete wiederzubeleben und wirtschaftlich auch sehr viel in die Entwicklung dieser Gebiete gesteckt. Die Botschaft lautet: „Tschernobyl ist überwunden“.

Kann man deswegen sagen, es gibt keine Erinnerungskultur in den Staaten selbst?

Es gibt eigentlich fast immer eine Erinnerungskultur. Sie kann mehr oder weniger aktiv gestaltet werden, staatlich vorgegeben oder breiter gesellschaftlich gestreut sein und mit unterschiedlichen Zielen angegangen werden von unterschiedlichen Akteuren.

Akteure, die versuchen Erinnerungskultur zu gestalten tun dies ja selten interessenfrei. In Belarus gibt es diese Verknüpfung von Tschernobyl mit der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Einmal: vergleichbare Vernichtungserfahrung. In Belarus wurden im Zweiten Weltkrieg etwa ¼ der Bevölkerung getötet. Durch Tschernobyl wurde durch die Strahlung etwa ¼ der Bevölkerung getroffen. Die Dekontaminierungsarbeiten nach der Reaktorexplosion wurden überwiegend durch  Soldaten vorgenommen. D.h. hier wurde Radioaktivität als Feind auch durch die Armee bekämpft und das war nochmal ein Vergleich. Dann: Menschen mussten fliehen, auch wenn man am Anfang  dachte, man flieht vorübergehend. Also, hier war der Kriegsvergleich sehr präsent und in dem Sinne ist es auch heute. Man hat Tschernobyl „besiegt“. Was die Ukraine betrifft, hier gibt es sehr viele Liquidatoren-Verbände. Es gab über 600T Menschen, die im wehrpflichtigen Alter als Rettungskräfte eingesetzt waren. Davon kamen etwa 400T aus der Ukraine. Deswegen gibt es in fast jedem Ort irgendwo ein Tschernobyl-Denkmal zur Erinnerung an die Heldentaten der Liquidatoren. Aber da sieht man: Hier wird wieder sehr stark das Heldentum betont. Auch hier wirken sowjetische Traditionen in der Erinnerungskultur nach.

Zu einer modernen Nation gehört ein Atomkraftwerk

In der Ukraine und auch in Belarus wird heute weiterhin auf Atomenergie gesetzt. Hat die Katastrophe keine Angst vor der Nutzung ausgelöst?

In Belarus ist letztes Jahr im November das AKW erst in Betrieb gegangen. Das war ein sehr langer Prozess. Es gab mehrere Anläufe und 1999/2000 wurde noch ein Moratorium gegen den AKW-Bau, also zeitweiliges verbot AKWs zu bauen, verlängert, das dann erst 2007 aufgehoben wurde. Dann wurde unterzeichnet, das AKW unter präsidialer Last zu bauen und bis 2020 hat es dann gedauert das umzusetzen.

Die offizielle Begründung ist die Energieabhängigkeit von Russland von Erdöl und Erdgaslieferungen, wobei es eine Falle ist, weil das AKW auch mit russischen Krediten gebaut wurde und auch der Brennstoff aus Russland kommt. Aber natürlich sind dann keine kurzfristigen Lieferengpässe möglich. Und hier steht wirklich auch nochmal dahinter das Bild: Zu einer modernen Nation gehört ein Atomkraftwerk. Es wird betont, es sei eine ganz andere Reaktortechnik, als 1986. Deswegen sei das sicher.

In der Ukraine ist die Situation etwas anders. Hier wird das stillgelegte AKW in der Geisterstadt Prypjat inzwischen als Touristenattraktion genutzt. Also man hat den Aspekt der Erinnerungskultur, der etwas sensationsorientiert ist. Ansonsten ist die Stromabhängigkeit bzw.  der Anteil der Atomenergie an der Stromproduktion so hoch, dass die Ukraine gar nicht weiß, wie sie den Strom ersetzen können sollte und deswegen jetzt die Laufzeit der alten AKWs mit einigen Modernisierungsmaßnahmen, die teilweise auch durch die EU finanziert wurden, immer wieder verlängert wird. Aber daneben findet kein Ausbau aktiv statt.

Welche Alternativen der Energiegewinnung gibt es für diese Länder?

Belarus ist bis vor wenigen Monaten ja ohne Atomenergie klar gekommen, deswegen hätte es hier eindeutig die Möglichkeit gegeben auch ohne AKE weiterhin klar zu kommen.

Wie? Mit welchen Energiequellen?

Gas und Erdöl, die für Wärmekraftwerke aber auch für die Stromproduktion genutzt wurden. Und in geringem Maße sind auch erneuerbare Energien im letzten Jahr ausgebaut worden. Ich denke Kohle wurde auch importiert.

Die Ukraine hat  einen hohen Anteil an Kohle, mit eigenen Kohlebergwerken. Deswegen gibt es jetzt ähnliche Strukturprobleme, wie wir sie hier in der Lausitz oder in NRW auch hatten bzw. ansatzweise immer noch haben. Wenn man sich vorstellt wie schwierig die Debatten bei uns schon dazu laufen oder auch in Polen, kann man sich bei den ganzen wesentlich schwierigeren Transformationsprozessen und noch der Kriegssituation in der Ukraine vorstellen, wie schwierig es ist, dort eine neue Energiepolitik zu gestalten.

Wie die Gesundheitssituation bzw. die Auswirkungen von Tschernobyl konkret sind ist sehr schwer zu sagen

Welche gesundheitlichen Folgen bestehen immer noch durch die Strahlung? Sind Menschen und Natur weiterhin gefährdet?

Zumindest einer außerordentlich Belastung ausgesetzt, weil die Strahlung natürlich nicht mehr in der Luft ist, es sei denn, sie wird durch Waldbrände freigesetzt. Aber ansonsten ist sie weitgehend im Erdboden. Sie kann teilweise ins Grundwasser geraten, dann kann sie über das Wasser und Lebensmittel aufgenommen werden.  In dem Sinne ist das ein ständiger zusätzlicher Risikofaktor.

Wie die Gesundheitssituation bzw. die Auswirkungen von Tschernobyl konkret sind ist sehr schwer zu sagen. In Belarus werden die Statistiken auch nicht veröffentlicht, was zum Beispiel Krebserkrankungen angeht, nach Regionen differenziert. Also Sie haben keinen Zugang zu Informationen, um zu schauen, ob das in bestimmten Regionen gehäuft ist oder nicht. Das macht es auch nochmal zusätzlich schwierig.

Warum gibt es keine Veröffentlichungen?

Weil man keine Debatten dazu möchte. Sondern: Man sagt, der Gesundheitszustand ist entsprechend dem Durchschnitt der Bevölkerung. Und dann kann man jede Art von Panik und Debatte darüber vermeiden. Wobei man natürlich gleichzeitig auch viele bestimmte Gerüchte in Umlauf setzt und somit unterstützt, dass Menschen unsicher werden, Vertrauen fehlt und ähnliches.

Mein Ansatz wäre, Erinnerungen so zu gestalten, dass sie nicht die Ohnmacht befördern, sondern zu versuchen, diese zukunftsorientiert mit auch positiven Gestaltungsmöglichkeiten zu verbinden

Traumatisiert es nicht noch mehr, immer wieder erinnert zu werden, ohne dass sich etwas verändert? Ist es für Betroffene nicht besser, dann irgendwann einen Cut zu machen?

Es gibt keine eindeutigen Antworten auf solche Fragen. Wenn man den Cut machen würde bzw. sich nicht damit auseinandersetzt, dann gerät man nochmal in ähnliche Probleme wieder hinein, und deswegen ist “Nicht-erinnern” für mich keine Option, sondern die Frage „Wie-erinnern“. Damit es eben kein Erinnern ist, was einen dem Fatalismus überlässt. Das ist ein großes Problem ohnehin, in der sowjetischen/postsowjetischen Kultur angelegt, fatalistisch zu denken: „Von mir hängt ohnehin nichts ab, ich kann nichts bewirken“. Und das schlägt dann auch gerne in Aggressionen um oder in Alkoholismus oder ähnliches. Das ist natürlich kontraproduktiv. Aber in der Regel ist es dann kein aktives Erinnern, sondern eine Art von diffusem Erinnern und gerade eher die Folge davon, wenn Probleme verharmlost werden. Mein Ansatz wäre, Erinnerungen so zu gestalten, dass sie nicht die Ohnmacht befördern, sondern zu versuchen, diese zukunftsorientiert mit auch positiven Gestaltungsmöglichkeiten zu verbinden.

Nach Ausstrahlung der Serie in der Ukraine, sind dreifach vierfach so viele Anfragen wie sonst eingegangen 

Wie denken Sie über die HBO Kurz-Serie, die 2019 erschienen ist? Ist das auch Erinnerungskultur?

Natürlich ist das Teil auch von Erinnerungskultur. Weil eben Vergangenes aufgearbeitet, interpretiert und dargestellt wird. Und es hat ja auch erhebliche Debatten ausgelöst in allen Ländern, in Belarus und in der Ukraine auch. In unserer „Geschichtswerkstatt Tschernobyl” in Charkiw, sind nach der Ausstrahlung der Serie in der Ukraine, dreifach vierfach so viele Anfragen wie sonst eingegangen für Besuche und Zeitgespräche. Also, so sehr teilweise die Liquidatoren kritisch waren über manche Details in der Serie, so dankbar waren sie doch dafür, dass die Serie nicht einfach konsumiert wurde, sondern wirklich auch nochmal ihr Schicksal in den Mittelpunkt gerührt hat und auch sie nochmal in Kontakt gebracht hat und interessanter gemacht hat.

Was ist fragwürdig an der Serie?

Also bei den Liquidatoren sind es teilweise auch ganz banale Details. Wie die Unterbringung zum Beispiel eigentlich gewesen ist.  

Für mich persönlich noch, ich war eigentlich vor allem von dem ersten Teil der Serie sehr begeistert, weil es insgesamt schon nah an dem Dokumentarischen orientierte Darstellung ist. In der zweiten Folge kam auch Belarus ins Spiel und das belarussische Institut für Strahlenphysik. Mit dem damaligen Leiter war ich noch persönlich im Kontakt, und da dachte ich: Oh, jetzt bin ich gespannt, wie wird er dargestellt. Und dann war das die einzige Figur, die nicht historisch besetzt war, sondern: Dann hat man gemacht, was man heute in Serien häufiger macht – das haben wir bei der Charité, das haben wir bei Babylon Berlin und anderen – dass eine weibliche Helden- bzw. Identifikationsfigur eingesetzt wurde, die an seiner Stelle quasi das Institut geleitet hat. Und das ist für mich auch eine grundsätzliche Frage, wenn wir heute Erinnerungskultur gestalten, ob es wirklich dem gut tut, weibliche Personen in solche Schlüsselrollen zu bringen, mit Aufgaben, die sie vielleicht gar nicht wahrgenommen haben. Damit fremdle ich etwas. Vor allem wenn ich sehe, wie diese Frau bei Sitzungen des Politbüros redet und ich weiß, dass das gar nicht denkbar gewesen wäre, in dieser Form. Einfach weil die Gesellschaft so patriarchalisch strukturiert war.

Auch die touristische Nutzung, die aktuell eher so etwas wie eine Sensationserfahrung ist, kann durchaus ein Vehikel sein, um Wege zur ernsthaften Auseinandersetzung zu ermöglichen

raum: links fenster; zerstörte decke und wände; sowjetisches bild in der mitte
Amort1939, //pixabay.com/photos/pripyat-chernobyl-1366161/

 

Aleksandr Tkatschenko, Minister für Kultur und Informationspolitik der Ukraine, schlägt Tschernobyl als UNESCO-Welterbe vor.  Ist das eine gute Idee?

Grundsätzlich würde ich das positiv sehen, weil das Objekt ja vorhanden ist – die Sperrzone Prypjat und das zerstörte AKW. Man könnte jetzt natürlich die Wahl treffen, man überlässt das einfach dem weiteren Verfall und niemand betritt es mehr. Aber man kann es auch versuchen als Mahnung zu erhalten. Auch die touristische Nutzung, die aktuell eher so etwas wie eine Sensationserfahrung ist, kann durchaus ein Vehikel sein, um Wege zur ernsthaften Auseinandersetzung zu ermöglichen. Deswegen, bin ich niemand, der da jetzt sagen würde, das muss man absolut verdammen. Sondern, erstmal sind alle Wege die Zugänge verschaffen gut. Dann ist da noch die Frage, wie entwickeln sie sich weiter und wie werden sie gestaltet. 

Atomenergie-Nutzung ist keine nationale Angelegenheit

Was wünschen Sie sich in Zusammenhang mit Tschernobyl für die Zukunft?

Dass Tschernobyl ein Beispiel ist, an dem man versteht, dass Techniken nicht beherrschbar sind. Dass da, wo menschliche Fehler möglich  sind, es immer wieder passieren kann und dass man das bei der Techniknutzung berücksichtigen muss. Dass bestimmte Fragen, wie die Atomenergie-Nutzung keine nationale Angelegenheit sein sollten. Ich denke das muss man noch wesentlich stärker diskutieren. 

Und als ich 1989 – um den Bogen zu schließen – an meiner ersten Fahrt nach Belarus teilgenommen habe, war damals die zentrale Devise: Wenn viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten dieser Welt viele kleine Schritte unternehmen, dann können sie das Gesicht der Welt verändern und ich denke dieser Satz ist immer noch richtig. 

 


Weiterführende Links

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Autorin:

couchFM Mitglied Blanko

Nika M