Wie ist es, als Erste:r in der Familie zu studieren?
Das Gefühl am falschen Ort zu sein und ein entfremdetes Verhältnis zu den Eltern – wer als Erstes in der Familie studiert, steht vor großen Herausforderungen. Im Gespräch mit CouchFM-Reporterin Pauline berichten Studi Justin und „Arbeiterkind.de“- Gründerin Katja Urbatsch vom schwierigen Schritt an die Uni.
GESPRÄCHSTOFF
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Wer als Erstes in der Familie studiert, fühlt sich gerade zu Beginn oft fehl am Platz. Das überrascht kaum, denn Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern sind an der Uni in der Minderheit. Während 77 von 100 Akademikerkindern studieren, sind es in nichtakademischen Elternhäusern nur 23 von 100. Eines dieser “Arbeiterkinder” ist Justin. Er studiert Philosophie an der Humboldt-Universität. Mittlerweile ist er im Master, arbeitet als Studentische Hilfskraft am Philosophie-Institut und unterrichtet selbst schon andere Studierende. Er erinnert sich aber noch gut daran, wie fremd er sich zu Beginn seines Studiums an der Uni gefühlt hat. Während andere von den Erfahrungen ihrer Eltern erzählten, die selbst studiert oder sogar promoviert hatten, verschwieg Justin die Berufe seiner Eltern lieber. Angestellte in einem Ordnungsamt und Funktechniker klingt nicht gut neben Zahnärztin und Professor. Während die Entscheidung für ein Studium für viele vollkommen selbstverständlich erschien, fühlte sich Justin wie in einem fremdartigen Kosmos, an den er sich erstmal gewöhnen musste.
Kulturschock Universität
Mit dieser Erfahrung ist er nicht allein. Für viele Studierende aus Familien ohne Hochschulerfahrung ist der Studienstart „erstmal ein großer Kulturschock“. Das berichtet Katja Urbatsch, Gründerin und Geschäftsführerin von ArbeiterKind.de. Die gemeinnützige Organisation ermutigt Kinder aus nicht-akademischen Elternhäusern dazu, den Schritt an die Uni zu wagen, und unterstützt sie bis zum Berufseinstieg. Dabei spricht Katja Urbatsch aus Erfahrung. Sie war selbst die Erste in ihrer Familie, die studiert hat. Zu Beginn des Studiums habe sie sich an der Uni oft fremd gefühlt. Andere konnten mehr Fremdwörter, hatten prestigeträchtigere Praktika gemacht, waren mehr gereist. Da habe sie sich oft gefragt, ob sie gut genug sei und ob sie überhaupt an die Uni gehöre.
Aber nicht nur Unterschiede in der kulturellen Bildung und Sprache können den Studienbeginn zur Herausforderung machen. Auch in finanzieller Hinsicht stellt das Studium viele Kinder aus nicht-akademischen Familien vor Probleme. Viele scheuen den Weg über das BAföG, denn die Beantragung ist kompliziert und die Unterstützung lässt oft lange auf sich warten. Die Angst vor Schulden sei in Familien ohne Hochschulerfahrung oftmals ein bremsender Faktor und lasse die Ausbildung als den sicheren Weg erscheinen, erzählt Katja Urbatsch.
Entfremdung durch unterschiedliche Erfahrungswelten
Justin hatte das Glück, dass seine Eltern ihn zumindest finanziell stets unterstützen konnten. Aber bei Fragen zum Studium und zu möglichen beruflichen Aussichten fehlt die Unterstützung von zuhause. Viele Erfahrungen haben Justins Eltern einfach nicht gemacht und können nicht weiterhelfen.
Diese unterschiedliche Erfahrungswelten führen oft zu einer Entfremdung von Eltern und Kindern. Das beobachtet Katja Urbatsch in der Arbeiterkind.de-Community. Auch Justin erzählt von einem zeitweise sehr distanzierten Verhältnis zu seinen Eltern. Er führt das auch darauf zurück, dass er gerade zu Beginn ein starkes Bedürfnis hatte, sich abzugrenzen. Jeden Tag brachte er sich neue Fremdwörter bei und stieß damit in seiner Familie auf Ablehnung.
Aber mit fortschreitendem Studium wurde Justins Abgrenzungsbedürfnis weniger und auch das Verhältnis zur Familie wieder besser. Mittlerweile gelingt es ihm, sowohl in der Uni als auch bei seinen Eltern den richtigen Ton zu treffen.
Diese Fähigkeit, sich in zwei Welten zuhause fühlen zu können und auch zwischen beiden Welten vermitteln zu können, sieht Katja Urbatsch als die Stärke von Studierenden aus nicht-akademischen Familien. Wer den Schritt an die Uni wagt, hat erst einmal mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Am Ende gehen die Studierenden aber meist gestärkt aus dem Studium, weil sie Mut bewiesen und ihren eigenen Weg gewählt haben.
Weiterführende Links und Quellen
Auf //arbeiterkind.de/ findet ihr Infos zum Arbeiterkind.de-Verein und könnt euch mit anderen Studierenden aus nichtakademischen Elternhäusern vernetzen.
Auf //www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2022/bildung-in-deutschland-2022#0 findet ihr den Bildungsbericht 2022, der unter anderem über die Chancengerechtigkeit im deutschen Bildungssystem Auskunft gibt.
Autorin:
Pauline