Was bedeutet Sprache für jemanden, der zwischen zwei Kulturen aufwächst?
Mit Sprache können wir nicht nur kommunizieren. Sie ist auch Teil unserer Identität, also wer wir sind. Denn Sprache existiert nicht nur im luftleeren Raum. Sie ist immer auch verknüpft mit bestimmten Kulturen und Lebensweisen. So auch bei mir. Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen, aber habe türkische Wurzeln und wuchs sowohl mit der deutschen, als auch mit der türkischen Sprache auf. Für mich steckte hinter dem Wort ‚Sprache‘ schon immer mehr, als die Fähigkeit zu sprechen.
GESPRÄCHSTOFF
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Die Entscheidung zwischen zwei Sprachen
Ich bin 10 Jahre alt, als ich im Urlaub in der Türkei alleine einkaufen gegangen bin. Direkt nachdem ich den ersten Satz sage, fragt mich der Verkäufer, ob ich aus Deutschland kommen würde. Sofort fühle ich mich unwohl, als würde ich die türkische Sprache hintergehen. Ich will nicht zugeben, aus Deutschland zu kommen, also verneine ich und gehe. Wieso wurde mir diese Frage gestellt? Ich sollte doch perfekt türkisch sprechen können. Es ist die erste Sprache, die ich gelernt habe, es ist meine Muttersprache. In meiner Außenwelt allerdings wird mehr deutsch gesprochen. Und dazwischen bin ich, inmitten von „zwei Welten“ und weiß nicht wirklich, zu welcher Sprache ich mich eher zugehörig fühle. Ich habe das Gefühl, mich irgendwie entscheiden zu müssen. Das erinnert mich an ein Zitat von Kübra Gümüsay: „Die Welt braucht keine Kategorien. Wir Menschen sind es, die sie brauchen. Wir konstruieren Kategorien, um uns durch diese komplexe, widersprüchliche Welt zu navigieren, um sie irgendwie zu begreifen und uns über sie zu verständigen.“ Heute weiß ich, dass beide Sprachen gleichermaßen Teil meiner Persönlichkeit sind und mich zu der gemacht haben, die ich jetzt bin.
Mein Bezug zur türkischen Sprache
Keine Sprache hat mich so geprägt wie meine Muttersprache. Auf Türkisch habe ich zum ersten Mal gesprochen, Emotionen ausgedrückt, wurde gelobt und angemeckert. Es ist die Sprache meiner Kultur und bietet mir die Möglichkeit, mich mit meiner Familie auszutauschen. Damit habe ich Glück, denn ich weiß, dass nicht jede Person das Privileg hat, zweisprachig aufzuwachsen oder gute Erfahrungen damit zu machen. Auch ich verbinde die türkische Sprache oftmals mit Scham. Nicht, weil ich sie nicht mag- im Gegenteil. Ich liebe ihren Klang und die Bilder, die mir aufkommen, wenn ich türkisch spreche. Ich verbinde die Sprache automatisch mit einem Platz in meinem Herzen, an dem ich mich geborgen fühle. Doch sie bedeutet für mich auch große Unsicherheit, weil meine Familie die Sprache perfekt kann und ich nun mal nicht. Also ziehe ich mich häufig zurück und bin nicht ganz so offen und laut, wie wenn ich Deutsch spreche. Ich kann Türkisch sprechen, aber eben nicht perfekt. Ich fühle mich oft schlecht, weil ich das Gefühl habe, dass ich meine Muttersprache doch eigentlich fehlerfrei sprechen sollte. Ich versuche, mich regelmäßig daran zu erinnern, was meine Eltern oft sagen: „Du kannst dich mit deiner Familie verständigen, das ist das Wichtigste“. Und sie haben Recht, denn dafür ist Sprache vor allem da. Meine Familie versteht mich und die Leute in der Türkei ebenso.
Über die Möglichkeiten, die einem Sprache bietet
Doch bis ich verstanden habe, dass ich eher die Möglichkeiten sehen sollte, die mir eine Sprache bietet, als ihre Grenzen, hat es lange gedauert. Manchmal muss ich mich immer noch daran erinnern, dass ich nicht alles perfekt machen kann. Sprache hilft mir allerdings dabei, mein Inneres nach außen zu tragen. Ich schreibe sehr gerne Gedichte und andere Texte über meine Gefühle. Meine Texte spiegeln meine Gedanken wider und sortieren sie. Manchmal ist es unmöglich, all diese Gedanken auszusprechen oder in Worte zu fassen. Mal finde ich im Türkischen ein Wort für ein Gefühl, mal im Deutschen oder im Englischen oder Französischen. Mit all diesen Sprachen kann ich experimentieren und sie als Möglichkeit sehen, mich sprachlich frei zu entfalten. So bietet eine neue Sprache mir die Möglichkeit, mich neu zu entdecken und kreative Texte zu schreiben, meine Gefühle noch genauer auszudrücken. Roland Barthes fasst diesen Gedankengang gut zusammen,wenn er sagt, Sprache sei eine gewisse Befreiung, die unsere Gedanken hörbar macht. Dazu muss man aber sagen, dass sie nur Gedanken hörbar machen kann, die man auch aussprechen kann oder darf, da nicht alles in Worte zu fassen ist. Menschen, die nur eine Sprache sprechen oder eine Sprache, die gesellschaftlich keinen guten Stellenwert hat, haben es in dem Fall deutlich schwerer und werden oft nicht gehört. Somit trennt auch Sprache auf eine gewisse Art und Weise unsere Gesellschaft.
Mein heutiges Verhältnis zur Sprache
Mir öffnet Sprache die Türen zur Welt. Durch Sprache habe ich die Gelegenheit, mit allen möglichen Menschen zu kommunizieren. Sie hilft mir dabei, meine Gedanken in Worte zu fassen. Dennoch weiß ich, dass ich aus einer privilegierten Situation heraus spreche. Nicht jede Person hat den Zugang zu so vielen Sprachen oder ist mit der Sprache, die sie spricht, überall akzeptiert. Manche Menschen werden bewusst durch Sprache ausgegrenzt. Auch ich bin nicht frei von Kategorien, hab lange selbst versucht, mich in Schubladen zu stecken und weiß teilweise immer noch nicht, mit welcher Sprache ich mich eher identifiziere. Wer bin ich und welche Sprache macht mich aus? Vielleicht ist das auch unwichtig. Vielleicht sollte ich einfach versuchen, alle Sprachen, die ich kann, miteinander zu vereinen und froh sein über die verschiedenen Möglichkeiten, die ich dadurch habe.
Autorin:
Melda Özsoy